Berge sind für alle da. Oder?

Ein Realitätscheck zwischen Gipfelträumen und Stolpersteinen

Berge: Orte der Sehnsucht, des Rückzugs, der Stille und der Weite. Während manche auf den Gipfeln Freiheit finden, stoßen andere bereits im Tal an ihre Grenzen. Nicht aus Mangel an Mut, sondern an Barrierefreiheit. Doch das Bewusstsein dafür wächst. Und es sind Menschen wie Felix Brunner, Bernhard Paul Gruber und Hans-Peter Schraffl, die zeigen, wie Barrieren überwunden und neue Wege geschaffen werden können. Es braucht eben Menschen, die vorangehen.

In den Bergen finden viele Menschen Ruhe und Entschleunigung, spüren grenzenlose Freiheit und fühlen sich als Teil von etwas Größerem. Für Menschen mit körperlichen Einschränkungen, ältere Menschen, Familien mit kleinen Kindern oder Menschen mit Sinnesbeeinträchtigungen sind Berge oft schwer oder gar nicht zugänglich. Wege, Unterkünfte und Angebote sind selten so gestaltet, dass sie allen Menschen uneingeschränkte Teilhabe ermöglichen. Dieser Gegensatz zwischen den hochfliegenden Gipfelträumen und den realen Stolpersteinen macht deutlich: Barrierefreiheit ist kein bloßer Luxusgedanke, sondern eine zentrale Voraussetzung dafür, dass die Berge tatsächlich für alle da sind.


„Inklusion ist erst erreicht, wenn niemand mehr danach fragt.“ Mit diesen Worten bringt Bergliebhaber Felix Brunner auf den Punkt, was Barrierefreiheit wirklich bedeutet. Und das betrifft nicht nur die Alpen, den Bergsport und das Naturerlebnis, sondern das gesamte Leben. Dabei ist Barrierefreiheit keineswegs ein Randthema. Allein in der Europäischen Union leben über 138 Millionen Menschen mit besonderen Bedürfnissen – das entspricht fast einem Drittel der Bevölkerung. Das macht deutlich: Barrierefreiheit ist kein Nischenthema. Und selbst wer keine Einschränkungen hat, profitiert von einem barrierefreien Umfeld. Das unterstreicht der Südtiroler Hans-Peter Schraffl mit einer einfachen Rechnung: „Barrierefreiheit ist für zehn Prozent der Gäste unentbehrlich, für 40 Prozent notwendig und für 100 Prozent komfortabel.“ Barrierefreie Architektur und die Gestaltung touristischer Angebote sollten deshalb nicht als lästige Pflicht oder Sonderlösung verstanden werden, sondern als Selbstverständlichkeit. Sie sind der Schlüssel, um die Berge von den Tälern bis zu den Gipfeln für alle Menschen zugänglich zu machen. Doch das bedeutet mehr als nur breite Wege oder Rampen. Es erfordert ein Umdenken, eine inklusive Haltung und kreative Lösungen, die alle Menschen mit denken. Es bedeutet, die Stolpersteine auf dem Weg zur Freiheit abzubauen und so Raum zu schaffen für Erlebnisse, Begegnungen und Teilhabe – für alle.


Pioniere wie Felix Brunner, der als erster Rollstuhlfahrer eine Alpenüberquerung abseits befestigter Wege wagte und damit neue Maßstäbe setzte, Hans-Peter Schraffl, Gründer von Monorolly und Bernhard Paul Gruber, der sich dafür einsetzt, dass öffentliche Räume ganzheitlich gedacht werden, gehen hier voran und zeigen, dass Barrierefreiheit nicht nur möglich ist, sondern auch eine Bereicherung für die gesamte Bergwelt.

Autorin/Interviewerin der Artikelreihe: Jasmin Lutz

Der Unaufhaltbare

Felix Brunner

Kraftort, Arbeitsplatz, Sportwiese, Heimat. Die Berge sind für Felix Brunner so viel mehr als nur ein mächtiges Naturschauspiel. Doch sie sind auch der Ort, der sein Leben für immer veränderte. Ein schwerer Unfall beim Eisklettern brachte lebensbedrohliche Verletzungen mit sich: acht Monate künstliches Koma, fast 14 Monate Intensivstation, 70 Operationen, 800 Bluttransfusionen, Rollstuhl. Wie er den Weg zurück ins Leben fand, was er anderen Betroffenen mit auf den Weg gibt und welche Veränderungen es in den Alpen braucht, um die Berge für alle begehbar zu machen.


Winter 2009: Der Rettungshubschrauber RK-2 aus Reutte ist gerade auf dem Weg in ein Skigebiet im Oberallgäu, als plötzlich ein Notruf eingeht: ein verunglückter Eiskletterer am Haldensee im Tannheimer Tal. Sofort wird der Einsatz umgeleitet. Nur etwa zwei Minuten später trifft der Helikopter an der Unfallstelle ein. Man kann es Schicksal nennen, göttliche Fügung oder einfach unglaubliches Glück. Doch eines ist sicher: Das schnelle Eintreffen des Hubschraubers hat Felix Brunner mit großer Wahrscheinlichkeit das Leben gerettet. 


Sommer 2025: In Hopferau, einer kleinen Gemeinde im schwäbischen Ostallgäu, nur wenige Kilometer von Füssen entfernt, schuf Felix Brunner sich und seiner kleinen Familie eine Wohlfühloase. In seinem Haus nahe dem Hopfensee hat er einen Ort der Ruhe und Geborgenheit gefunden. Es ist 9 Uhr morgens. Er sitzt am Esstisch, seine kleine Tochter hüpft fröhlich um ihn herum, ihr herzliches Lachen erfüllt den Raum. Während Felix Brunner ruhig und eindrucksvoll von seinem Leben erzählt, sitzt sie neben ihm und malt ihm ein Bild. Ein Moment der Liebe, ganz alltäglich und doch voller Bedeutung. Denn vor 16 Jahren hätte Felix Brunner niemals damit gerechnet, eines Tages Frau und Kind zu haben. „Mein Leben war vorbei, meine Träume zerstört. Eigentlich war alles zerstört“, erinnert er sich an die dunklen Gedanken nach dem Unfall. 


800 Blutkonserven – und das Leben ging weiter

Felix Brunner ist gerade einmal 19 Jahre alt, als er nach dem Eisklettern beim Abstieg ins Stolpern gerät und 30 Meter in die Tiefe stürzt. „Ich war für einen kurzen Moment unaufmerksam und dann passierte etwas, das einem Bergretter nicht passieren darf: Ich stürzte ab“, so Brunner. Ein junger Mann mit großen Zielen. Er macht eine Ausbildung zum Krankenpfleger, engagiert sich aktiv bei der Bergwacht Füssen und ist fast täglich in seinen geliebten Bergen unterwegs. Dann plötzlich liegt er im Bachbett – schwer verletzt – und weiß: Nichts wird mehr so sein, wie es einmal war. Der ambitionierte Bergsportler verliert bei dem Sturz über vier Liter Blut. „Wenn man bedenkt, dass ein menschlicher Körper nur etwa sechs bis sieben Liter Blut enthält, ist das eigentlich kaum vorstellbar.“ Felix Brunner benötigte rund 800 Bluttransfusionen, ohne sie hätte er nicht überlebt. Statistisch gesehen braucht jeder Dritte im Laufe seines Lebens eine Transfusion. „Heute bin ich Blutspende-Botschafter. Blut ist nicht künstlich herstellbar und man sollte dankbar sein, im Notfall welches zu bekommen“, so Felix Brunner eindrucksvoll. 

Der junge Mann lag über ein Jahr auf der Intensivstation, davon acht Monate im künstlichen Koma. „Ich hatte so viele Ziele, die ich einfach nicht aufgeben wollte. Ich plante Kletterabenteuer mit meinen Freunden. Ich war so naiv“, sagt Felix Brunner rückblickend. Als er schließlich begriff, dass er die Berge nie wieder so erleben würde wie früher, fiel er in eine tiefe Lethargie. Nichts machte ihm mehr Freude, er ließ sich gehen, versank im Selbstmitleid. Bis es zum Streit mit seiner Mutter kam: Ein Moment, der alles veränderte. „Ich schämte mich so. Und dann erinnerte ich mich daran, wer ich war – der Macher, der Organisator. Das war ich immer“, sagt er. 

Nur eine Woche später zog er in eine Rehaklinik ein. Dort traf er auf Menschen, die ihn inspirierten, die ihm zeigten, dass sein Leben trotz allem lebenswert ist. Einer davon war Florian Fischer, damaliger deutscher Rollstuhlbasketballer. „Heute sind wir gute Freunde. Damals erzählte er mir, was er alles macht: Basketballspielen, Skifahren, Schwimmen, sogar Heiraten. Ich war begeistert. Er war mein Vorbild. Ich dachte mir: Wenn du das schaffst, dann schaffe ich das auch,“ erinnert sich Felix Brunner an die Zeit in der Reha zurück. „Eineinhalb Jahre später habe ich angefangen zu akzeptieren und Verantwortung für mein Leben zu übernehmen. Heute kann ich sagen, dass ich mein Schicksal angenommen habe und dass ich glücklich bin mit mir und meinem Leben“, so Brunner. Von diesem Moment an setzte sich der Bergliebhaber neue Ziele – andere, aber nicht weniger große.


480 Kilometer, neun Tage – Offroad über die Alpen 

Sommer 2013: Nach dem Unfall glaubten die Ärzte nicht, dass Felix Brunner überleben würde. Später hieß es, er werde niemals wieder sitzen können. Sport? Unvorstellbar. Vier Jahre nach seinem Unfall, beweist er allen das Gegenteil. Als erster Mensch überhaupt überquert er mit einem Handbike die Alpen, von Füssen an den Gardasee. Aber nicht auf geteerten Straßen, sondern über die anspruchsvolle Mountainbike-Route. „Natürlich lief nicht alles reibungslos“, erzählt Brunner. „Aber ich hatte meine Kumpels dabei und meinen Papa. Einmal standen wir vor einer Schlucht, die nur über schmale Holzbretter zu überqueren war. Ja, da trugen mich halt meine Jungs rüber. Wichtig ist, keine Scheu zu haben, Hilfe anzunehmen.“ 

Die Alpen, die Berge – sie sind nicht in Gänze barrierefrei und werden sie auch nie sein. Und doch ist es der Raum, wo Felix Brunner sich am wohlsten fühlt. „Die Berge waren und sind noch heute mein größter Motivator.“ Brunner wollte sie nie aufgeben, nur weil sich sein Köper veränderte. Er musste Wege finden, wo keine vorgesehen waren. Mit jeder Tour, jedem Projekt und jedem Schritt jenseits der Norm macht er sichtbar, was möglich ist. Gleichzeitig zeigt er, wo es noch Barrieren gibt. Heute engagiert sich Felix Brunner intensiv für Barrierefreiheit im Outdoor-Sport – nicht nur für sich, sondern für alle, die ebenfalls von Teilhabe träumen. Es geht nicht darum, überall raufzukommen. Es geht darum, überhaupt irgendwohin zu dürfen. 

Auf dem Weg zur Inklusion 

Solange Menschen mit Behinderung ständig erklären, rechtfertigen oder um Lösungen bitten müssen, ist Inklusion nicht vollständig verwirklicht. „Inklusion ist erst erreicht, wenn niemand mehr danach fragt,“ so Brunner. Inklusion ist keine Wohltat – sie ist Voraussetzung für eine faire und offene Gesellschaft. Und sie beginnt im Denken. Nicht erst bei der Rampe. Es beginnt schon bei den Parkplätzen oder bei der ersten Treppe im Berggebiet. Vieles, was für andere selbstverständlich ist, wird für Menschen mit Behinderung schnell zur unüberwindbaren Hürde. Manchmal ist es der fehlende Parkplatz in Reichweite oder eine Stufe zu viel, die entscheidet, ob ich dabei sein kann oder nicht. Deshalb fordert er ein Umdenken – nicht erst, wenn der barrierefreie Zugang vergessen wurde, sondern lange davor. „Barrierefreiheit muss von Anfang an mitgeplant werden: in Städten, auf Wanderwegen, bei Veranstaltungen. Nicht als Nachbesserung, sondern als Grundvoraussetzung.“ Für ihn ist klar: Inklusion scheitert nicht an der Technik, sondern am Willen.

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